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Edmund de Waal: Die weiße Straße

Edmund ist fünf. Er begleitet seinen Vater jeden Donnerstag zu einem Keramik-Abendkurs an der Kunstschule am Ort. Nach einer Stunde gibt es eine Pause, ein Glas Saft und einen Keks.

Und Edmund töpfert seine erste Schale: „drei fingerdicke Wülste aus Ton, innen ausgehöhlt, mit einem Wirbel an Abdrücken…“. Das erste Gefäß, das er herstellt. Das erste Gefäß von Zehntausenden, die er seit über vierzig Jahren, leicht gebückt über der Scheibe sitzend, erschafft.

Als Edmund dann mit siebzehn zum ersten Mal mit Porzellanerde arbeitet, findet er in ihr DAS handwerklich-künstlerische Material, das ihn nie mehr loslassen wird und aus dem er wunderbar zarte Kunst erschafft: die Mischung aus Kaolin und Petuntse. Und diese Mischung ermöglicht es, dieses durchscheinend weiße Material zu erzeugen, dessen Rezeptur über Jahrhunderte ein Geheimnis der Töpfer aus der chinesischen Stadt Jingdezhen war.

Aber was ist dieses Buch nun? Die Geschichte einer persönlichen Leidenschaft? Die künstlerische Entwicklungsgeschichte eines Töpfers? Ja, beides. Aber auch die Kulturgeschichte eines bezaubernden Materials, der Jagd nach der Rezeptur und der immer wieder scheiternde Versuch, diesen Stoff selber zu erschaffen, an dem sich über Jahrhunderte die Phantasie des Abendlandes entzündete. Der Leser begegnet einem Jesuitenpartner, der im frühen 18. Jahrhundert nach China geschickt wird und dort seine Beobachtungen akribisch notiert, fährt nach Dresden, an den Hof August des Starken, der in seiner Gier nach Porzellan nicht davor zurückschreckt einen „Alchimisten“ mehr als zehn Jahre einzukerkern und damit zu der Entdeckung der Porzellan-Rezeptur zu zwingen. Man begleitet aber auch Heinrich Himmler in seiner Begeisterung für Porzellan zu der Gründung einer Porzellanmanufaktur in Dachau.

Dieses schön-schreckliche, dieses giftige Zeug und durch und durch bourgoise Material übt weiterhin eine große Faszination aus. Und wer, wie ich, erstmal an entsetzlich überladene Services denkt á la Meissen, der wird bei der Lektüre staunen. All das kann Porzellan natürlich sein. Es kann aber auch zarte und dabei unvollkommene Umhüllung der Leere sein. Wer jetzt denkt, die Willeken spinnt, sollte umso dringender dieses Buch lesen. Neben all dem Wissenswerten über Porzellanherstellung, dem künstlerischen Lebensweg des Edmund de Waal, ist es nicht zuletzt eine Meditation über Kunst. Und ich kann Ihnen nur raten, sich nach der Lektüre die Werke des Autors anzuschauen. Der Kreis wird sich schließen.

 

 

Empfohlen von Kirsten Willeken

Edmund de Waal: Die weiße Straße

464 Seiten, ISBN: 9783552057715, 26€, Paul Zsolnay Verlag

Erschienen: 26. September 2016