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Vera Buck: Runa

Paris im Jahr 1884. Es die Zeit der Hysterie, die Zeit, in der Frauen für emotionale Schwankungen als krank erklärt werden. Es ist die Zeit der Nervenärzte, die Zeit der Experimente vor den Augen eines neugierigen Publikums. Die "hysterischen" Frauen sind die Zirkustiere und der Arzt ihr Dompteur. Doktor Charcot ist der Star der Salpêtrière, seine Vorlesungen sind jeden Dienstag überfüllt. Johann Richard "Jori" Hell ist Medizinstudent und einer seiner größten Fans. Auf der Suche nach einem geeigneten Thema für seine Doktorarbeit, besucht er jede von Charcots Vorlesungen, doch er kann nicht über ein Thema promovieren, dass bereits ausreichend untersucht wird. Er braucht etwas Neues. Als die kleine Runa in die Salpêtrière eingeliefert wird, hat er sein Thema gefunden. Keine der üblichen Behandlungen schlägt bei ihr an, doch Jori hat von einem anderen Arzt gehört, der erste Versuche mit Operationen am offenen Hirn unternommen hat. Ein Erfolg auf diesem Gebiet - den Wahnsinn einfach wegzuschneiden - wäre eine bahnbrechende Entwicklung. 

 

Jori wirkt noch recht grün hinter den Ohren, seine Mitstudenten nehmen ihn nicht ernst. Es werden Wetten gegen ihn abgeschlossen. Dr. Charcot ist immerhin so neugierig, dass er die Stelle als Joris Doktorvater übernimmt, sollte die Operation glücken. Und Dr. Luys, den kaum noch etwas interessiert, giert nach der Möglichkeit, der erste auf einem Gebiet zu sein - denn dieser Titel fehlt ihm noch. Er sucht etwas, mit dem er in die Geschichte eingehen kann. Zunächst sieht Jori Runa nur als Forschungsobjekt. Sie redet nicht, wirkt apathisch. Stundenlang liegt sie still da, ans Bett gefesselt, verweigert die Nahrungsaufnahme. Und trotzdem fürchten sich die Menschen vor ihr. Wegen ihrer Augen mit den unterschiedlich großen Pupillen. Und wegen dem, was sie tut, wenn man ihr einen Stift in die Hand gibt. Wegen dem, was sie schreibt. Je länger Jori sich mit Runa befasst, desto mehr möchte er, dass die Operation ihretwillen gelingt. Er möchte ihr helfen. Doch mit diesem Wunsch scheint er der einzige zu sein. Wem kann er überhaupt noch trauen?

 

"Runa" ist ein sehr komplexer Roman. Er ist historisch und in mancher Hinsicht authentisch. Viele Figuren hat es tatsächlich gegeben, viele der Experimente an hysterischen Frauen haben so oder so ähnlich stattgefunden. Herr Lindt und seine Schokolade finden am Rande eine Erwähnung. Am Ende des Buches gibt es eine dreiseitige Literaturliste für alle Leser, die mehr über das Thema erfahren möchte. Über die Charcot, über Gilles de la Tourette, über die Metallotherapie und über die Verfahren, mit denen hysterische Frauen "geheilt" werden sollten. "Runa" ist aus ähnlichen Gründen ein medizinischer Roman mit vielen fachlichen Informationen und einigen Fachbegriffen. Er ist ein Thriller, der am Anfang sogar leichte Horrorelemente aufweist. Wer ist dieses Mädchen, woher kommen die Inschriften, wer hat das Gesangsbuch vollgeschmiert, wer hat diese Buchstaben auf der Leiche hinterlassen? Es ist ein Krimi, der die Suche nach mehreren Verbrechern und Mördern schildert. Und irgendwie ist es auch ein Bildungsroman, der die Geschichte eines jungen Medizinstudenten erzählt, der erkennen muss, dass er sich von seinen Idolen hat blenden lassen und dass die Welt viel komplizierter ist, als er dachte. Ganz am Rande ist es sogar eine Liebesgeschichte. Die Geschichte von Jori und Pauline, die sich seit Kindertagen kennen. Doch Pauline ist krank, sie gilt als hysterisch, sie muss behandelt werden. Wenn Jori nur schnell genug Fortschritte mit Runa macht, kann er die schreckliche OP, die Pauline bevorsteht, vielleicht verhindern. Vielleicht kann es das Ende für sie geben, das er sich immer gewünscht hat. 

 

"Runa" ist unfassbar vielschichtig und mindestens ebenso spannend. Die unterschiedlichen Figuren mit all ihren Faccetten, die vielen Geheimnisse und Lügen, die Verstrickungen untereinander, dazu das Gefühl "das könnte damals tatsächlich so passiert sein". Es ist ein Buch mit Gänsehautfaktor. 

 

Vera Buck: Runa. Limes. Euro 19,99

Empfohlen von Miriam Broicher